NANCHANG, 23. April (Xinhua) -- Als die Dämmerung über die „Porzellanhauptstadt“ Jingdezhen in der ostchinesischen Provinz Jiangxi hereinbricht, schlendert die 69-jährige deutsche Keramikkünstlerin Karin Flurer-Brünger wie jeden Tag langsam durch die von Kunstwerken gesäumten Gassen.
Warmes Licht fällt auf die roten Backsteinmauern und die geschäftigen Zelte der Handwerker und taucht die eklektischen Kreationen, die ihren Blick auf sich ziehen, in einen sanften Schein. Jedes Kunstwerk ist ein stilles Gespräch zwischen Künstler und Ton - und Flurer-Brünger ist eine der vielen Stimmen, die diesen Dialog prägen.
Dies ist ihr dritter Monat in Jingdezhen, einer Stadt mit einer über tausendjährigen Porzellangeschichte, die sich nun zu einem globalen Zentrum für Keramik entwickelt hat.
„Früher war es eine staubige Industriestadt, heute ist sie sauber und modern“, sagte Flurer-Brünger. „Ich habe hier alle Möglichkeiten - Brennöfen, Orte und Menschen, die sich wirklich auf Keramik und Porzellan spezialisiert haben, und viele schöne Ausstellungen. Ich bin sehr glücklich, hier zu sein.“
Flurer-Brünger nimmt am „Migratory Bird Program“ des Taoxichuan Art Center in Jingdezhen teil - einer Initiative, die 2015 ins Leben gerufen wurde, um Künstler aus aller Welt einzuladen, in dieser Stadt voller Kreativität zu leben, zu arbeiten und Ideen auszutauschen.
Mehr als 4.300 ausländische Künstler aus über 50 Ländern und Regionen haben bereits daran teilgenommen, angezogen von der Möglichkeit, in internationalen Ateliers zu arbeiten, mit alten chinesischen Techniken zu experimentieren und Werke zu hinterlassen, die Teil der sich entwickelnden Kulturlandschaft der Stadt werden.
In Flurer-Brüngers Atelier stehen die Regale voller ordentlich angeordneter Schalen und Tassen, jede mit einer einzigartigen Form und Glasur. Familienfotos schmücken die Wände und verleihen dem kreativen Raum eine persönliche Note.
„Dieses kleine Mädchen malt sehr gerne“, sagte Flurer-Brünger lächelnd und hält das Kunstwerk ihrer Enkelin vorsichtig hoch. „Ich habe ihre Zeichnungen ausgedruckt und auf meine Keramik übertragen.“
Obwohl Flurer-Brünger in einer Ingenieursfamilie aufgewachsen ist, war es nicht die Technik, sondern die Beschaffenheit des feuchten Tons, die ihre Fantasie schon früh beflügelte.
Flurer-Brünger erinnerte sich, dass ihr Vater Maschinenbauingenieur und Erfinder war und ständig seine neuen Ideen skizzierte. Dieser frühe Einfluss weckte ihr Interesse an handwerklicher Arbeit. Um diesem Interesse nachzugehen, ging sie bei einem Töpfermeister in die Lehre.
„Dieser großartige Meister hat mein ganzes Leben geprägt. Die Möglichkeiten dieses Materials faszinieren mich schon mein ganzes Leben lang“, sagte Flurer-Brünger.
Auch Jahrzehnte später sind es ihre Neugier und ihr Mitgefühl, die die Künstlerin zu neuen Ideen inspirieren. Derzeit konzentriert sie sich auf zwei kreative Projekte.
Das erste dreht sich um Licht und Menschlichkeit. Flurer-Brünger möchte menschliche Persönlichkeiten in ihren handgefertigten Keramiklampen zum Ausdruck bringen, die wie Menschen sowohl eine raue als auch eine glatte Seite haben. Das Licht im Inneren soll sie zum Leuchten bringen.
Flurer-Brüngers zweites Projekt ist eine Mission der Empathie. Durch ihre früheren Erfahrungen mit bedürftigen Kindern entwickelte sie ein tiefes Mitgefühl für Menschen, die Hunger leiden. Deshalb beschloss sie, 150 Schalen herzustellen und zu verkaufen, um Geld für Kinder zu sammeln, die nicht genug zu essen haben. „Das ist ein Wohltätigkeitsprojekt“, erklärte sie. „Die Schale ist seit jeher ein Symbol für das Essen.“
In Jingdezhen, wo alte Handwerkskunst auf globale Kreativität trifft, hat Flurer-Brünger sowohl Inspiration als auch Innovation gefunden. Sie experimentiert mit Techniken für dünnwandiges und durchbrochenes Porzellan - perfektioniert durch lokale Mentoren und unterstützt durch die gemeinsamen Brennöfen des Ateliers.
„Selbst wenn nicht jedes Stück gelingt, lerne ich etwas Wertvolles“, sagte Flurer-Brünger und deutete lachend auf einen Testofen. „Und schau mal - dieser hier wurde in Deutschland hergestellt!“
Flurer-Brüngers künstlerische Reise spiegelt den Austausch zwischen China und Deutschland im Größeren wider, der durch Porzellan ausgelöst wurde - eine Verbindung, die mehrere Jahrhunderte zurückreicht.
In den frühen 1700er Jahren gelang es dem deutschen Alchemisten Johann Friedrich Böttger, das Geheimnis der Herstellung von Hartporzellan zu lüften, einer Technik, die in China seit Langem perfektioniert war. Er nannte es das neue „weiße Gold“.
1710 wurde in Meißen die erste Porzellanmanufaktur Europas gegründet, die den Beginn einer über 300-jährigen Tradition markierte. Meissener Porzellan wurde in Europa schnell beliebt und als das beste Porzellan gepriesen.
Später, zwischen 1868 und 1872, bereiste der deutsche Geograf Ferdinand von Richthofen China. In seinen Reiseberichten führte er den Begriff „Kaolin“ ein, um den weißen Ton zu beschreiben, der in Jingdezhen für Keramiken verwendet wurde. Der Name leitet sich vom Ort seiner Entdeckung, dem nahe gelegenen Dorf Gaoling, ab.
Seitdem hat Porzellan aus Kaolin entlang der maritimen Seidenstraße die Welt erobert und wird für seine glatte, raffinierte Schönheit bewundert. Es wurde zu einem Symbol für chinesische Handwerkskunst und öffnete die Tür für den kulturellen Austausch mit dem Westen.
Heute, Jahrhunderte später, dauert dieser Austausch an. Jingdezhen hat Partnerschaften mit mehr als 180 Städten in 72 Ländern geschlossen. Durch Veranstaltungen wie die Jingdezhen-Meissen-Ausstellung „Weißes Gold“ und Live-Vorführungen der Keramikherstellung in Berlin belebt und erfindet diese chinesische Stadt ihr Erbe als globale Keramikhauptstadt neu.
In den letzten Jahren hat Jingdezhen daran gearbeitet, neue Plattformen für den internationalen Austausch zu schaffen und die Keramikkultur durch Ausstellungen, Öffentlichkeitsarbeit und Zusammenarbeit aktiv zu fördern. In der Hochsaison beherbergt die Stadt über 5.000 Keramikkünstler, Designer und Handwerker aus aller Welt, die wie Zugvögel kommen und gehen.
Im Zuge von Chinas Modernisierung ist das kulturelle Selbstbewusstsein zu einem wichtigen Schwerpunkt geworden. Mit starker Unterstützung der Regierung hat sich die Keramikkultur zu einem wichtigen Symbol für die Soft Power des Landes entwickelt.
Im Jahr 2006 wurden die traditionellen handwerklichen Porzellanfertigungstechniken von Jingdezhen in die erste Liste des nationalen immateriellen Kulturerbes Chinas aufgenommen, was zum Schutz und zum Erhalt dieser wertvollen Tradition beiträgt.
Orte wie Jingdezhen sind heute lebendige Bühnen für den globalen Dialog, auf denen Künstler wie Flurer-Brünger nicht nur Keramiktraditionen weiterführen, sondern auch aktiv an der Gestaltung einer gemeinsamen kulturellen Zukunft mitwirken - einer Zukunft, die von Generation zu Generation weitergegeben und von neuen Händen neu interpretiert wird.
Mit dem starken Wunsch, diese Traditionen weiterzugeben, war die deutsche Keramikkünstlerin erfreut, vielversprechende Talente in der jüngeren Generation zu sehen. „Ich finde es gut, dass es hier so viele junge Leute gibt. Außerdem nutzen junge Deutsche soziale Medien, TikTok und alles andere. Vielleicht ist das ein Weg, um diese brillante Porzellanherstellung bekannt zu machen“, sagte sie. „Junge Menschen interessieren sich wieder für alles Handgemachte, und das könnte die Zukunft der Keramik sein.“
„Ich liebe es, mit jungen Menschen zu arbeiten und ihnen das Töpfern beizubringen. Ich glaube, dass es ein wichtiges Handwerk für die Menschheit ist, und ich hoffe, dass in den kommenden Jahren mehr Menschen auf der ganzen Welt davon erfahren werden“, fügte Flurer-Brünger hinzu.
(gemäß der Nachrichtenagentur Xinhua)